Forschungsvorhaben
Schlucken ist ein lebensnotwendiger, komplexer Prozess. Gesteuert über kortikale Prozesse, die im Stammhirn koordiniert werden, muss für einen Schluck eine Vielzahl von Muskeln zeitgerecht aktiviert werden. Die Steuerung dieser Abläufe erfolgt in Abhängigkeit von der Schluckphase bewusst und/oder unbewusst. Störungen des Schluckablaufs können dramatische Folgen haben. Neben einer Fehlernährung drohen Folgeerkrankungen wie Lungenentzündungen, die fatal verlaufen können. Ursache für Schluckstörungen sind vor allem Schädelhirntraumen und Schlaganfälle. Jeder zweite Schlaganfallpatient leidet unter Schluckstörungen, wobei bei einem Viertel der Patienten die Probleme dauerhaft sind.
Aufgrund der komplexen Strukturen für die Steuerung des Schluckvorgangs bestehen erhebliche Differenzen in den Ausprägungen der Schluckstörungen. Dabei nimmt der zeitgerechte und vollständige Verschluss des Kehlkopfes beim Schluckablauf als Gabelung zwischen Luftröhre und Speiseröhre eine zentrale Rolle ein. Gelingt der Verschluss nicht vollständig, kommt es zu einem Übertritt von Speichel oder Nahrungsmitteln in die Atemwege, mit den beschriebenen fatalen Folgen.
Primäres Ziel einer Rehabilitation von Schluckstörungen ist die Wiederherstellung der gestörten Funktionen und Abläufe. Dies kann zum einen durch die Reorganisation zentraler Strukturen, z. B. durch Stimulation, erfolgen oder durch mechanische Unterstützung beim Schluckvorgang, z. B. durch Schluckmanöver. Voraussetzung für einen Rehabilitationserfolg ist ein nach der Schädigung ausreichendes kortikales Potenzial und eine Verbindung des Kortex zu den sensorischen Arealen und Muskeln. Fehlen diese Verbindungen oder fehlen die sensorischen Information zur Steuerung der motorischen Abläufe oder können die Muskeln nicht in ausreichendem Maße angesteuert werden, ist eine Rehabilitation der Schluckvorgänge nicht möglich und der Patient bleibt auf eine Ernährung über eine Sonde und eine Trachealkanüle zum Schutz vor einer Aspiration angewiesen. In diesen nach derzeitigem wissenschaftlichen Erkenntnisstand aussichtslosen Fällen kann eine zusätzliche elektrische Stimulation der am Schlucken beteiligten Muskeln sinnvoll sein. Dabei können zum Schutz vor einer Aspiration zwei mögliche Stimulationsansätze unterschieden werden:
1.) Durch Stimulation von Muskeln der äußeren Kehlkopfmuskulatur kann eine Hebung des Kehlkopfes erzielt werden.
2.) Durch Stimulation der inneren Kehlkopfmuskeln kann ein Verschluss der Stimmbänder erreicht werden.
Die Stimulation der Muskulatur kann sowohl transkutan oder intramuskulär erfolgen. Verschiedene Studien zeigen, dass eine intramuskuläre Stimulation einer transkutanen deutlich überlegen ist.
Unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Stimulation im Schluckablauf ist das zeitgerechte Auslösen der elektrischen Reize. In bisher vorliegenden Studien erfolgte die Stimulation durch den Patienten mit einem Handschalter. Alternativ wurde eine EMG-Triggerung der Stimulation vorgeschlagen.
Alle bisher vorgestellten Stimulationssysteme weisen den Mangel auf, dass keine direkte Messung des Stimulationserfolges und damit keine geregelte Stimulation möglich sind. Der Goldstandard zur Bewertung des Schluckvorgangs, die Videofluoroskopie, ist aufgrund der Strahlenbelastung und des enormen gerätetechnischen Aufwands für den automatisierten, täglichen Einsatz nicht geeignet. Ähnlich verhält es sich mit der Endoskopie.
Vorarbeiten
Wir haben ein neuartiges Bioimpedanz-Messverfahren entwickelt, das Aussagen über den Grad des Verschlusses des Kehlkopfes und über das Auftreten von Aspirationsereignissen ermöglicht. Unter dem Verschluss des Kehlkopfes ist die Bewegung des Kehlkopfes gegen den Zungengrund zu verstehen. Grundlage des Verfahrens sind Messungen der Bioimpedanz in zwei Bereichen des Halses während des Schluckvorgangs. Für die Echtzeiterfassung der Bioimpedanzänderungen wurde ein neuartiges BI-Messgerät entwickelt, das auch die durch Stimulation ausgelösten Bewegungen oder Kräfte (unter isometrischen Bedingungen) erfassen kann. Neben der Anwendung Schlucken wurde das System bereits für die Messung und Regelung der Fußhebung bei einem Fallfußstimulator verwendet.
Verschiedene Autoren berichteten bereits zuvor von einer Änderung der Bioimpedanz im Halsbereich beim Schlucken, wobei das Profil der Bioimpedanz den Ereignissen im Schluckablauf zugeordnet wurde. Die Antragsteller konnten zusätzlich für die von ihnen verwendete Messanordnung (4-Elekroden-Methode; separate transkutane Strom- und Spannungselektroden) zeigen, dass die Änderung des Betrages der Bioimpedanz beim Schlucken mit dem Abstand von Kehlkopf und Zungenbein korreliert (siehe Abbildung 1). Der Nachweis wurde in einer Pilotstudie mit zwei Patienten erbracht. Bei den Patienten, die sich zur Diagnostik einer bösartigen Erkrankung außerhalb des Bioimpedanzmessbereichs einer Videofluoroskopie unterziehen mussten, wurde gleichzeitig eine Messung der BI durchgeführt. Die Spannungselektroden fanden sich beidseitig in Höhe des Schildknorpelhorns, die Einspeisung des Stroms erfolgte beidseitig auf dem M. sternocleidomastoideus.
Abbildung 1: Korrelation von BI-Änderung und Atemwegsverschluss
Anhand der BI-Messung wurden somit Veränderungen im Bereich oberhalb des Kehlkopfes beim Schlucken erfasst, einem Bereich, der für einen Schutz vor einer Aspiration beim Schlucken verschlossen werden muss.
Wir konnten in einem weiteren Versuch an einem Tierpräparat (Rinderkehlkopf) demonstrieren, dass mittels BI-Messung die Detektion einer Aspiration von außen durch den Schildknorpel hindurch möglich ist. Hierfür wird die BI in Höhe der Stimmbänder durch auf das Kehlkopfskelett angebrachte Nadelelektroden gemessen. Zur Simulation einer Aspiration wurden verschiedene Flüssigkeiten während der Messung durch den Kehlkopf geleitet. Die Passage der Flüssigkeiten über die Stimmbandebene konnte anhand der BI-Änderung sicher identifiziert werden (siehe Abbildung 2).
Abbildung 2: Änderung der Bioimpedanz bei Aspiration
Klinische Bedeutung
Die Entwicklung einer Neuroprothese für die Behandlung von Schluckstörungen ist von hervorragender klinischer Bedeutung. Sie würde der Rehabilitation von Schluckstörungen eine neue, zukunftweisende Perspektive eröffnen. Bis zum heutigen Zeitpunkt stehen nur wenige valide Therapieoptionen in der Behandlung von neurogenen Schluckstörungen zur Verfügung. In den meisten Fällen erfolgen bei Patienten mit einer schwerwiegenden Schluckstörung nach der Diagnose die Anlage einer Trachealkanüle zu Minimierung der Aspiration sowie die Verwendung einer PEG zur Sicherung der Ernährung. Im Weiteren ist eine intensive, langandauernde Rehabilitation mit ungewissem Therapieausgang notwendig. Dieser Prozess nimmt in vielen Fällen Jahre in Anspruch. Dabei ist der Patient in dieser Zeit beständig auf eine 24-Stunden Betreuung, Rehabilitation und medizinische Hilfe angewiesen. Dies ist eine erhebliche Belastung für Patienten, Angehörige und Kostenträger. Gelingt es durch die unterstützenden Maßnahmen einer geregelten Stimulation im Rahmen einer Neuroprothese diesen Verlauf zu verändern und zu verkürzen, bedeutete dies für die Patienten eine deutliche Verminderung ihrer Behinderungen, eine Verbesserung ihrer Lebensqualität und eine erhebliche Einsparung für die Kostenträger.
Zukunftweisend für die Rehabilitationsmedizin ist der Einsatz einer iterativen Prothesenregelung. Sie soll sich entsprechend der Fähigkeiten des Patienten anpassen und soll auf diese Weise die zentrale Rehabilitation fördern. Dieses Konzept hat für viele weitere Teilbereiche der motorischen Rehabilitation einen erheblichen Stellenwert.
Fragestellung und Ziele des Forschungsvorhabens
Die Arbeitshypothese des geplanten Vorhabens lautet, dass durch Verwendung von Bioimpedanzmessungen eine Regelung des Schluckablaufs durch gezielte Anpassung der Muskelstimulationen möglich ist. Die Stimulation soll dabei entsprechend der Fähigkeiten des Patienten und der sich ändernden Schluckbedingungen (z. B. Konsistenz der Nahrung) automatisch angepasst werden. Ziel des Projektes ist der Nachweis der Machbarkeit einer geregelten Neuroprothese für das Schlucken basierend auf einer mehrkanaligen Bioimpedanz- und EMG-Messung (Abbildung 3).
Mit dem geplanten Projekt sollen folgende technische und medizinische Fragen beantwortet werden:
- Was sind die geeigneten Mess- und Stimulationspunkte für eine Neuroprothese?
- Wie lassen sich Stimulationsartefakte effizient aus den BI- und EMG-Messungen entfernen?
- Kann basierend auf einer mehrkanaligen EMG-Ableitung eine Schluckintention zuverlässig erkannt und eine Stimulation ausgelöst werden?
- Wie lässt sich schaltungs- und messtechnisch eine mehrkanalige BI- und EMG-Messung für eine implantierbare Neuroprothese realisieren?
- Können Stimulations- und Messelektroden kombiniert werden, um den Aufwand der Implantation von Elektroden für ein zukünftiges Implantat zu verringern?
- Kann durch Iterativ Lernender Regelung (ILR) eine Adaption der Stimulation entsprechend der Fähigkeiten des Patienten erfolgen?
- Ist mit dem System ein ausreichender Schutz der Atemwege möglich?
- Kann eine Aspiration zuverlässig erkannt werden und kann ein Husten oder Räuspern als Gegenmaßnahme ausgelöst werden?
Abbildung 3: Modell des geplanten Mess- und Stimulationssystems als Grundlage für eine Neuroprothese.